In einem Heft, dessen Leitthema die Veränderung ist, sollte ein Blick auf die Mode nicht fehlen. Veränderung ist ihre Seele, Wandel ihre raison d'ȇtre. Das Folgende ist ein Versuch, sich dem schillernden Phänomen Mode in zehn Thesen auf eine – wenn auch vorläufige und fragmentarische Art – zu nähern.
1. Die einzige Konstante der Mode ist der Wechsel. Im Gegensatz zum Stil zeichnet sie sich durch permanente Veränderung aus. Ihr Verfallsdatum bemisst sich nach Monaten. Was gestern noch „in“ oder „angesagt“, ja ein „Must“ war, ist heute schon wieder „mega-out“. Saisonal wechseln die Farben, die Säume rutschen mal nach oben, mal nach unten, und oft greift man auf längst Vergangenes zurück und erklärt es zur Innovation. Form und Inhalt der Mode werden völlig gleichgültig. So ist sie nach einer Definition von Walter Benjamin „die ewige Wiederkehr des Neuen“.
2. Mode ist ein eminent wichtiger Wirtschaftsfaktor. Sein Motor ist der ständige Wechsel. The show must go on, die Produktion muss laufen, der Verkauf muss boomen und der Rubel rollen. Mit raffiniertesten Werbestrategien wird der gewünschte Bedarf geweckt. Industrialisierung, Globalisierung und sozialer Fortschritt begünstigen den ständigen Wechsel: Mode ist zum Massenartikel geworden, der nicht mehr kostspielig und extravagant sein muss und den sich heute jedermann leisten kann und soll. Selbst die Superreichen zahlen nicht mehr unbedingt die exorbitanten Preise der Haute Couture, weshalb die großen französischen und italienischen Modehäuser längst ihre besten Umsätze mit anderen Produkten wie Parfums und Accessoires machen Die zweimal jährlich stattfindenden Modeschauen sind im Grunde nur noch gigantische Marketingveranstaltungen.
3. Mode ist global. Die Mode kennt heute weder ethnische noch kulturelle Unterschiede. Von Moskau bis San Francisco und von Stockholm bis Kapstadt ist sie auswechselbar. Jede Modeänderung betrifft heute das weltweite Angebot.
4. Mode ist zu billig und verursacht Umweltschäden. Das Modekarussell dreht sich immer schneller, und große Textilunternehmen sehen sich gezwungen, in immer kürzeren Abständen neue Ware auf den Markt zu werfen. Sie lassen in Entwicklungsländern zu Hungerlöhnen Kleidung – meist aus Synthetik – fertigen, die so wenig nachhaltig ist und so billig verkauft wird, dass sie nach einer Saison in den Abfall wandert. Das führt zu einem bedrohlichen Ansteigen des Plastikmülls.
5. Mode muss nicht unbedingt mit Ästhetik übereinstimmen. Gerade heute begegnet uns ein seltsames, fast irrationales Phänomen: Wie ein zäher Schleim hält sich seit Jahren die sogenannte Freizeit- und Jugendmode, die auch und mit Vorliebe von „sechzigjährigen Gitarristen“ (H. M. Enzensberger) kultiviert wird. Sie ist, ein Gang durch unsere Fußgängerzonen beweist es, von kaum zu überbietender Hässlichkeit. Zwar lässt sich über Geschmack trefflich streiten, aber hier scheint die Un-Eleganz zum Prinzip erhoben. Folgerichtig bezeichnet man in dieser Szene Kleidungsstücke zutreffend als „Fummel“ oder „Klamotten“, Schuhe als „Treter“, und so sehen sie auch aus.
6. Mode vereint den Hang zur Nachahmung mit dem zur Individualisierung. Schon vor über hundert Jahren konstatierte der Philosoph und Soziologe Georg Simmel: „Mode ist Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung“. Sie befreit den Einzelnen von der Qual der Wahl. Die Einbindung in einen allgemeinen Konsens verleiht Sicherheit, denn was alle tragen, kann nicht falsch sein. Andererseits gehört zur eigentümlichen Dialektik der Mode auch wie die zweite Seite einer Medaille der Wunsch nach Individualisierung, nach Abhebung von den anderen, die Tendenz zur Differenzierung und Abwechslung. Dieses Bedürfnis zeitigt den Wechsel, die Änderung, das Füllen der Mode mit neuen Inhalten. Heute manifestiert sich der Trend zur Individualisierung vor allem in einem gesteigerten Markenbewusstsein, auch und vor allem bei Jugendlichen. Eltern schulpflichtiger Kinder werden ein Lied davon singen können, wie ihre quengelnden Kids unbedingt auf diesem oder jenem Outfit mit unbedingt diesem oder jenem Label bestehen.
7. Mode ist demokratisch. In Zeiten einer ständisch geordneten Gesellschaft wurde die Mode von der feudalen Klasse bestimmt, die damit Vorbild der unteren Schichten war. Die Nachahmung der unteren Gruppen veranlasste die obere Klasse immer wieder, sich durch Änderungen abzugrenzen und zu distanzieren. Die Modetrends kamen also von der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide. Das ist heute nur noch eingeschränkt gültig. Zwar steht Mode nach wie vor für eine gewisse soziale Abgrenzung, aber sie ist nicht mehr exklusiv und Ausweis gesellschaftlicher Unterschiede. Heute sind es die Trendsetter, vulgo Schickimickis, die eine Witterung für das Neue in der Mode haben und aus einem zeitlichen Vorsprung ihr soziales Prestige saugen. Sie marschieren modisch an der Spitze des Fortschritts, und die anderen hecheln ihnen hinterher.
8. Mode ist ein Ausdruck von Freiheit. In einer permissiven Gesellschaft wie der westlichen kann sich im Grunde jeder kleiden wie er will. (Das gilt nicht, wenn mit der Bekleidung eine bestimmte ethnische oder berufliche Zugehörigkeit demonstriert werden soll, also beispielsweise bei Trachten oder Uniformen.) Es ist charakteristisch für eher geschlossene gesellschaftliche Systeme wie etwa die islamischen Staaten strenger Observanz oder die Volksrepublik China unter Mao, dass in ihnen Mode keine Rolle spielt, ja sogar verboten ist.
9. Mode ist die „Physiognomie des Zeitalters“ (Schopenhauer). Mode ist mehr als nur Kleidung. Sie steht für eine Lebensform, sie kann die Art des Wohnens, Essens, der Freizeit- und Urlaubsgestaltung, kurz auf Neudeutsch den gesamten Lifestyle umfassen. In ihr spiegelt sich das Lebensgefühl einer Zeit, denken wir nur an die Prüderie der viktorianischen Epoche oder die Aufbruchsstimmung der 70er Jahre mit ihrer schrillen und fröhlichen Mode. Politische und gesellschaftliche Themen wie die Protestbewegungen, der Pazifismus oder der Jugendkult haben unübersehbar ihre Spuren auch in der Mode hinterlassen.
10. Wenn es auch heute kein Diktat der Mode mehr gibt, gilt doch nach wie vor das holländische Sprichwort: „Die Mode ist ein Gesetz, dem man mehr gehorcht als dem Katechismus“.
Text: Lisa Weyand
Fotokredits: CL., Quelle: photocase.de