Im Gespräch mit Pfarrer Christian Weinhag
Herr Weinhag, im Oktober 1999 sind Sie zu "neuen Ufern" aufgebrochen: vom Kaplan in Neuss zum Pfarrer von Liebfrauen im Köln-Mülheim. Hatten Sie dabei so etwas wie eine "Wahl" oder gar eine kleine Mitbestimmung?
Ein lieber Freund machte mich auf die vakant gewordene Stelle in Mülheim aufmerksam. Zusammen unternahmen wir eine Spritztour durch die Straßen Mülheims. Sofort wurde mir klar: Das ist es, wonach ich suche! Im Eiscafé auf der Buchheimerstr. schrieb ich die Bewerbung an den Personalchef – und rechnete mit einer Absage: zu unerfahren, zu verkopft, zu jung oder zu alt, was weiß ich. Die Zusage kam binnen drei Tagen. Den Namen Josef Metternich hatte ich noch nie gehört. Unsere erste Begegnung war filmreif. Für Josef war ich ein Flippy aus Berlin; er selbst war Seelsorger aus Leidenschaft. Bei völliger Wahlfreiheit entschied ich mich für Mülheim. Dieser Wahl bin ich treu geblieben.
Auf Ihrer neuen Pfarrerstelle sind Sie dann recht bald mit drei Fusionierungen mit den Nachbargemeinden Herz Jesu, St. Mauritius und St. Antonius konfrontiert worden. Eine von der Bistumsleitung aufgezwungene Herkulesaufgabe, die zur Gründung der Gemeinde St. Clemens und Mauritius führte. Was war für Sie dabei als Seelsorger das Schwierigste, oder gab es vielleicht auch eine "angenehme Überraschung"?
Die 1. Fusion hieß Liebfrauen – Herz Jesu. Da war die Tinte noch feucht auf dem Fusionspapier, schon nahte die 2. Fusion (St. Antonius, St. Elisabeth, St. Mauritius und St. Petrus Canisius). Und mittendrin robbte mir ein Oberpfadfinder als Diözesankurat durch den Kirchgarten: Stefan Wagner. Pfadfinder ist eine Lebenseinstellung: Reden ist Silber, Umsetzen ist Gold. Wir machten eine Rochade. Stefan Wagner wechselte zum Leitenden Pfarrer und ich selbst in den Part des Pfarrvikars. Das haben wir prima hingekriegt – was nicht selbstverständlich ist.
Sahen Sie sich durch diese formalen und oft sicher reinen Verwaltungsaufgaben in Ihrer Arbeit als SEELsorger eingeschränkt?
Gerade als Leitender Pfarrer, gerade in den Verwaltungsaufgaben war ich extrem als Seelsorger gefragt. Personalangelegenheiten erfordern ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl. Auch das gehört zur Rückschau: In der Personalpflege lag ich manchmal völlig daneben. Wer handelt, macht Fehler.
Weitere Fusionierungen liegen in der Luft. Die Zahl der hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger sinkt beständig. Nur düstere Aussichten? Oder sehen Sie doch für alle Beteiligten einen Hoffnungsschimmer?
„Es geht in der Hoffnung zu. Es steht im Werden“ (Martin Luther). Es gibt nur den einen Hirten: Jesus aus Nazareth. Das ist das Ziel: ihn zeitlebens nie aus den Augen zu verlieren. Das ist weit mehr als ein Hoffnungsschimmer. Es geht um die „persönliche Nachfolge“ – und alles andere sind Debatten über Strukturen, Personal und Finanzen.
Meine Buchempfehlung: Hubert Wolf, Der Unfehlbare. Pius IX und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 2020. Und Sie werden nach der Lektüre verstehen, warum die katholische Kirche so ist, wie sie ist.
Ihre Tätigkeit hier zeichnet sich durch Ihr großes Interesse an der Erwachsenenbildung / Kulturarbeit aus: zu Beginn das "Bibelhaus Liebfrauen", über Jahre Ihre prägende Arbeit im Kulturausschuss und bei der Kirchenmusik, Ihre Mitwirkung im Kunstkreis St. Clemens, das aktuelle Projekt zum Markusevangelium, u.v. m. Das alles fest basiert auf Ihren profunden Kenntnissen nicht nur der Theologie, sondern auch der Judaistik. Was war dazu Ihre Triebfeder?
Ausschlaggebend waren vier Semester in Tübingen am Institutum Judaicum. Dort begann mein Interesse an den altorientalischen Sprachen (Hebräisch, Aramäisch und Syrisch). Der Institutsdirektor vermittelte mich anschließend an das Martin-Buber-Institut für Judaistik an der Universität Köln. Hier wurde ich eingeführt in den weiten Bereich der jüdischen Mystik, damals ein Forschungsschwerpunkt des Instituts. Der entscheidende Impuls ging dann aber aus nach einem erneuten Wechsel des Studienortes, nämlich nach Berlin. Der Forschungsschwerpunkt jüdische Mystik blieb. Diese vier Jahre im damaligen „Berlin-West“ möchte ich als die anregendsten und schönsten Jahre meines Lebens bezeichnen. August 1989 ging es dann wieder zurück nach Westdeutschland – und Oktober / November 89 fiel die Mauer. Da stand ich Wochen lang unter Strom.
Meine „heimliche“ Liebe: zwischendurch 4 Tage Kurfürstendamm – und es geht mir wieder gut.
Ihre große Liebe galt immer der Literatur. Ein Projekt mit Lesungen aus Shakespeares "Sturm" fand ebenso großen Anklang wie Rezitationen und Vorträge zu Brecht und der Literaturgeschichte allgemein. Es ist zu befürchten, dass dieser Teil der Kulturarbeit mit Ihrem Weggang unwiederbringlich verloren ist.
Da brauchen sich nur ein paar „Leseratten“ zusammentun und eröffnen ein literarisches Kolloquium, beispielsweise in der Katholisch Öffentlichen Bücherei an der Liebfrauenkirche – und dieser Zirkel wird wachsen. Diese Clubs sind immer chaotisch, das macht geradezu ihren Charme aus: 1 Buch – 8 Teilnehmer und mindestens 16 Meinungen. Und alle gehen nach der Buchpräsentation glücklich nach Hause. Lesen verbindet
Meine letzte Entdeckung: Herfried Münkler, Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch, Berlin 2021 – herausragend.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt – gut sichtbar – auf der Gestaltung der Gottesdienste: sonntags mit herausragenden Predigten, immer von der eigenen Überzeugung / Erfahrung getragen; die Durchführung der "Mülheimer Gottestracht", Ihr Projekt "Ostern experimentell", durchgehend von Palmsonntag bis zur Osternacht. Auch diese Liste ist sicher nicht vollständig. Was war / ist dazu Ihr Leitgedanke? Erfrischend ist immer die Liberalität Ihrer Gedanken, die auf jede auch noch so kritische Meinung eingeht.
Mit 16 wollte ich Bühnenbildner werden. Das erübrigte sich später, weil ich mich bei der praktischen Umsetzung der kreativen Ideen höchst ungeschickt anstellte. (Darüber gibt es Fotos, die bei mir im Giftschrank bleiben!). Geblieben ist die Liebe zum Theater.
Die Kirchengemeinde ist ein wunderbares Theater. Gespielt wird immer dasselbe Stück, aber in verschiedenen Inszenierungen und Besetzungen: „Die große Lust am Leben“. Eine Kirchengemeinde liefert die Bühne (Kirchenraum) und alle spielen mit. Ob Kirchengemeinde oder Theater – sie alle sind dabei: Primadonnen und Neurotiker, eitle Tenöre und die Mitglieder im Opernchor … Und wie im Theater so in einer Kirchengemeinde: Die wichtigen Leute stehen nie an der Rampe, sondern agieren hinter der Bühne. Sie sorgen dafür, dass alles sich zusammenfügt. Es ist nie die Rampensau, die über Erfolg oder Fiasko entscheidet, es ist das Ensemble: Alle machen mit – und jeder macht etwas anderes. Dann wird alles gut – hoffentlich: ob im Theater oder in der Kirche.
Mein Lieblings- und Kultfilm: Ingmar Bergman, Fanny und Alexander (Bitte die Fernsehfassung! In einer CD erhältlich).
Und nun folgt mit Ihrer bevorstehenden Pensionierung wieder ein "Schritt zu einem neuen Ufer". Welche persönlichen Wünsche, Erwartungen, Hoffnungen haben Sie dazu? Was werden Sie vielleicht vermissen?
Ich werde einen Jazzkeller/-club eröffnen! Die Räumlichkeiten sind da – und die Musiker auch. Die scharren schon mit den Füßen, wann es endlich losgeht, weil die Herrichtung der Räume auf sich warten lässt. Das wird sich bald ändern. „Swinging Ehrenfeld“ – übrigens dürfen Sie sich heute schon für die Mitgliedschaft bewerben; die „Aufnahmeprüfung“ ist „schwer“ …
Hoffnungen? Zu meiner Zeit in Mülheim zählen auch Verlusterfahrungen: ob Mutter, Geschwister und engste Freunde; das Leben ist endlich.
Wünsche? Bleiben Sie in der Kirche! Das Volk Gottes braucht Sie. Bleiben Sie bitte weiter in der Kirche; und wenn alle Argumente dagegensprechen, bleiben Sie wenigstens mir zuliebe!
Der ewige Trost: der Bechstein Flügel (jahrelanges Sparen ging voran!).
Wir bedanken uns herzlich und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute.
Dieses Interview führten Lisa Weyand und Helga Weiß
Fotos: Silke Grimm