Pfarrnachrichten
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Im Gespräch mit Herrn Bach, Geschichtswerkstatt Köln-Mülheim 
 
Herr Bach, wann und warum wurde die Geschichtswerkstatt gegründet?
1994 jährte sich der große Bombenangriff auf Mülheim am 28. Oktober 1944 zum 50. Mal. Aus diesem Anlass organisierte der Kulturbunker an der Berliner Straße zusammen mit zahlreichen Gruppen und Künstlern eine große Ausstellung und Veranstaltungsreihe, die sich mit diesem Jahrestag auseinandersetzten. Getragen von der starken Resonanz dieser Ausstellung in der Bevölkerung fand sich eine Gruppe Interessierter, die beschloss, die Schätze, die zusammengekommen waren, zu sammeln und auszuwerten. Leider ist das Buch, in das sich zahlreiche Mülheimer mit zum Teil bewegenden Beiträgen eingetragen hatten, am letzten Tag gestohlen worden. Trotzdem konnten viele Verbindungen lebendig gehalten werden – und dadurch gibt es uns seit 1994. 
Noch heute nutzen wir den Archivraum des Kulturbunkers und „danken“ ihm das mit jährlichen Führungen zum Tag des Denkmals und 2016 mit einer ausführlichen Broschüre „Die Geschichte des Kulturbunkers“*. 
  
Wie groß ist etwa der Kreis der Mitarbeiter und aus welchen Berufen kommen diese?
Der Kreis der Aktiven blieb immer überschaubar, so um die 5 – 8. Was uns immer wichtig war, wir waren nie ein abgeschlossener Kreis und immer offen für Kooperationen, die in sich überschneidenden Projekten mitgearbeitet haben. So gibt es zur jüdischen Geschichte eine rege Kooperation mit der jüdischen und der evangelischen Gemeinde. Zu Fragen der Migration kooperieren wir mit der VHS, der IG-Keupstraße, den Initiativen dort und dem Sozialraummanagement, und auch die Zusammenarbeit mit dem Kapellchen in der Holsteinstraße hat zu gemeinsamen, auch vom Mülheimer Literaturclub mitgetragenen Veranstaltungen zu ganz unterschiedlichen Themen der Mülheimer Geschichte geführt. 
Dieses Interesse an unserer Arbeit und die Zusammenarbeit mit so vielen Interessierten hat dazu beigetragen, dass die Geschichte für uns ein äußerst lebendiges Hobby geblieben ist – und uns, der wir aus den verschiedensten Berufen kommen – keine/r ist gelernte/r Historiker/in – über 28 Jahren immer mehr in die Geschichte hat eintauchen lassen. 
  
Was ist Ihr spezielles Anliegen bei dieser Arbeit?
Aus dem Anlass des Jahrestages der Bombardierung Mülheims heraus stand am Anfang die Beschäftigung mit der NS-Geschichte sehr stark im Vordergrund. 2009 waren wir dann eingebunden in ein Projekt des Lokalen Aktionsplans Köln, das vom NS-Dokumentationszentrum betreut wurde, was schließlich zu der Kampagne „Mülheim entdeckt seine NS-Geschichte“ und den Broschüren „Köln-Mülheim in der NS-Zeit“* und „Jüdisches Leben und Verfolgung in Köln-Mülheim“* geführt hat. Schon damals war uns wichtig, mit vielen, die diese Zeit noch erlebt hatten, ins Gespräch zu kommen, was u. a. dazu geführt hat, dass zum 60. Jahrestag der Bombardierung Mülheims von einer Gruppe von ZeitzeugInnen selbst ein Filmbeitrag produziert und eine Veranstaltung gestaltet wurde. Dabei haben auch wir gelernt, dass die damals Erwachsenen diese Zeit mit großen Sorgen und Traumata erlebt haben, die zum Teil noch 50 Jahre nachwirkten, sie z. B. keine Bombendetonationen in Filmen mochten. 
Diese enge Zusammenarbeit und die vielen Debatten mit Mülheimer/innen aller Schattierungen haben letztlich das Lebendige der Geschichtsarbeit ausgemacht – und haben natürlich auch dazu beigetragen, dass wir ein immer komplexeres Bild von der Geschichte bekamen – und das, was wir vorzutragen hatten, für die Leute immer interessanter wurde. So versteht sich die Geschichtswerkstatt letztlich als eine Art Superspreader für Mülheimer Geschichte. 
  
Welche besonderen Projekte haben Sie bearbeitet?
2004, der 60. Jahrestag der Bombardierung war ja bekanntlich auch das Jahr des Nagelbombenanschlags auf die Keupstraße. Wie viele andere haben wir uns ebenfalls nicht vorstellen können, dass es Leute aus der Straße selbst sind, die mit Bombenlegern in Verbindung stehen, wer wirft schon eine Bombe in die eigene Straße, die ständigen Beschuldigungen und Vorwürfe an die MigrantInnen und die Keupstraße sind aber auch an uns nicht spurlos vorüber gegangen. Wir haben nicht die Nähe zur Straße und den Leuten gesucht. Wir waren, im schlechtesten Sinne, „distanziert“ und haben die Opfer allein gelassen. Um so größer war das schlechte Gewissen, als 2011 offiziell bekannt wurde, was den Leuten in der Keupstraße schon von Anfang an klar war, es waren Rassisten und rechte Terroristen. Von da war unsere Arbeit sehr stark von dem Thema Migrationsgeschichte Mülheims und Rassismus bestimmt. Eine unserer Freundinnen hat damals Interviews mit Anwohnern der Keupstraße gemacht, die wir 2016 in einer Broschüre „Die Keupstraße – Geschichte und Geschichten“* veröffentlicht haben. Auch in unseren Führungen und Stadtteilspaziergängen durch Mülheim war es in den nächsten Jahren das meist nachgefragte Thema. Wir kooperierten mit dem Schauspiel Köln, bei den Führungen durch die Keupstraße vor dem Stück „Die Lücke“, wurden aber auch von Schulen und Universitäten angefragt und beteiligten uns mit den Initiativen bei der Unterstützung der Betroffenen. 
2014, der hundertste Jahrestag der Eingemeindung der selbständigen Stadt Mülheim in die Stadt Köln, belebte noch einmal die kontroversen Diskussionen, wieweit Mülheim durch die schlechte Behandlung durch die Stadt Köln von einer wohlhabenden Stadt zu dem geworden ist, als das es jetzt viele erleben. Die Diskussionen und Veranstaltungen mündeten letztlich in die 80-seitige Broschüre »100 Jahre Köln-Mülheim«*. 
Schon in unserem 1. Projekt zur NS-Geschichte begannen wir, die jüdische Geschichte Mülheims aufzuarbeiten. Einer von uns machte das zu seinem Kernprojekt. Er erforschte in einem Gemeinschaftswerk mit der jüdischen und evangelischen Gemeinde den jüdischen Friedhof, was schließlich 2021 in die zweite Broschüre mündete: „Die Jüdische Gemeinde Köln Mülheims und ihr Friedhof“*. 
  
Wie kommunizieren Sie mit der Öffentlichkeit?
Wir haben natürlich die oben zitierte Webseite, auf der unsere Veröffentlichungen und aktuellen Ankündigungen zu finden sind. Dadurch werden wir auch viel angefragt. Unsere Hauptkommunikationsmittel sind unsere Veranstaltungen und Führungen. Da kommen wir mit den Leuten ins Gespräch, sehen, was interessiert, bekommen Tipps, wo wir weiter „forschen“ können. Sie machen das Lebendige der Geschichtsarbeit aus und bilden die Seele der „Geschichte von unten.“ 
  
Geschichte ist ständig im Fluss. Wie sehen Sie die Zukunft der Geschichtswerkstatt? „Werkstatt“ bedeutet sicher viel Detailarbeit und ständiges Wachsen. 
Das ist eine gute Frage! Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende. Man könnte als nächstes die Kelten erforschen, von denen es ja zahlreiche Hügelgräber im Mülheimer Umland gibt und sich fragen, welche der 150 keltischen Völker durch „Mülheim“ emigriert sind. Und nach jedem neuen Tag ist der Gestrige Geschichte. Das verursacht bei HobbygeschichtsforscherInnen schon mal eine gewisse Rastlosigkeit: Das muss ich noch … und das muss ich noch. Man lernt allerdings auch eine gewisse Bescheidenheit: Die Geschichte ist so unübersehbar und so vielfältig, dass jedes kleine Detail, was man aufdeckt oder entdeckt, neue Perspektiven und Zusammenhänge eröffnet, wir die längst vergangene Vergangenheit plötzlich in der Gegenwart wiederfinden. 
Wie unsere Zukunft aussieht? Die „Gründergeneration“ der Geschichtswerkstatt geht auf die 75. Bald sind wir Geschichte. Wir denken, irgendjemand wird schon dafür sorgen, dass die Geschichtswerkstatt nicht selbst Geschichte wird. 
Je mehr Ihre Leserschaft ihre eigenen geschichtlichen Erfahrungen und Dokumente z. B. in Nachlässen, Fotos oder bei Erkundigungen der Geschichtswerkstatt evtl. auch zum Einscannen zur Verfügung stellt, um so reichhaltiger wird das Bild von Mülheim und seiner Geschichte weitergegeben. 
  
Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.
Dieses Interview führte Helga Weiß
  
*Alle erwähnten Broschüren sind abrufbar auf der Internetseite: www.geschichtswerkstatt-muelheim.de/literatur/veröffentlichungen/

 

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